Das rätselhafte Volk der Guanchen
Mystische Sagen und Legenden sind zur hören, wenn man den Geschichten der einheimischen Dorfbewohner zuhört.
Es lebte sich gut auf Herbania, wie die Insel ursprünglich genannt wurde, wegen der Mauer, welche die beiden damaligen Fürsten zur Unterteilung ihrer Länder bei der Enge von Pared errichtet haften. Zu fressen gab es reichlich, die dichten Wälder boten Schatten und ihre Bäume hielten die Feuchtigkeit zurück und bewässerten die Erde, wo saftiges Gras wachsen konnte. Die meisten meiner Vorfahren liefen frei herum, einige lebten bei den Bauern, die sie im Süden auf der Halbinsel Jandia weideten. Gegenüber den Menschen waren wir in deutlicher Überzahl und das sollte sich bis in die moderne Zeit nicht ändern. Vor allem aber waren wir das Nützlichste, was die Menschen besaßen, denn von uns kann man einfach alles verwerten: die Milch und das Fleisch zur Ernährung, unsere Häute für Bekleidung, die Eingeweide als Flüssigkeitsbehälter, die Hörner und Hufe für Pfeile und kleine Werkzeuge.
Zur Zeit der Guanchen war die Insel in zwei Reiche aufgeteilt: Maxorata, im Norden, wurde vom Fürsten Ayoze regiert und Jandia, im Süden, vom Fürsten Guize. Aber die wichtigsten Personen im Land waren zwei Frauen: Tibiabin und deren Tochter Tamonante bestimmten über die rechtlichen Angelegenheiten auf der Insel und waren gleichzeitig berühmte Seherinnen, deren Rat die Fürsten bei wichtigen Entscheidungen einholten. Selbst solche Orakel konnten nicht ohne unsere Mithilfe ausgesprochen werden. Als die beiden Mächtigen eines Tages die Frauen über die Zukunft der Insel befragten, töteten diese ein junges Zicklein und lasen aus seinen Eingeweiden folgende Prophezeiung: „Mächtige Völker
werden in ihren „weißen Häusern” übers Meer kommen. Fürchtet sie nicht und geht nicht mit Gewalt gegen sie vor. Empfanget sie, im Gegenteil, mit Freuden und überlasst ihnen euer Schicksal, denn sie werden eurem Land nur Vorteile bringen”.
Aus einer viel späteren Zeit stammt ein Brauch, in dem wir ebenfalls die Hauptrolle spielten. Während der häufigen Dürreperioden, die unsere Insel heimsuchten, zelebrierten die Menschen folgendes Ritual: sie trennten die Zicklein von den Muttertieren, dann gab es drei Tage nichts zu fressen, für uns nicht und für die Menschen ebenso wenig. Unser herzzerreißendes Hungergeschrei sollte die Götter aufwecken und sie daran erinnern, dass die Erde dringend Regen brauchte.